Der Jenaer Soziologe und NaturFreund Klaus Dörre über den Balance-Imperialismus
Wer kennt es nicht, das Gefühl, ständig aktiv zu sein und dennoch seine Zeit zu vergeuden?
Man arbeitet permanent – in der Firma, im Büro, im Haushalt, dem Garten, dem Sportverein – und doch oder gerade deshalb fehlt es an der Zeit für die eigentlich wichtigen Dinge des Lebens, insbesondere für die Familie. Warum fällt es uns so schwer, die Prioritäten anders zu setzen?
Der Grund ist ein Phänomen, das der Philosoph Oskar Negt und der Filmemacher Alexander Kluge schon vor einem Vierteljahrhundert als Balance-Imperialismus bezeichnet haben:
Eine hoch flexible Arbeitswelt ebnet die Grenzen zwischen Erwerbstätigkeit und Privatleben ein. Man verlässt den Arbeitsplatz, doch der Kopf bleibt im Büro. Arbeitszeiten sind flexibel und es wird deshalb schwerer, das Familienleben zu koordinieren.
Auch die Kinder müssen frühzeitig arbeiten – in der Schule, bei der Nachhilfe, im Fußballverein oder den Klavierstunden. Die Erwerbsarbeit greift auf alle anderen Arbeitsvermögen und Zeitbudgets zu – sei es nun die Zeit für zweckfreie Tätigkeiten und Hobbys, die Zeit für unbezahlte Sorge- und Reproduktionsarbeiten in der Familie oder die Zeit für ehrenamtliches Engagement, für Arbeit an Demokratie und Gesellschaft.
Weil es uns immer schwerer fällt, die verschiedenen Tätigkeiten sinnvoll zu verbinden, müssen wir immer mehr Zeit für Koordinationstätigkeiten aufwenden – und die fehlt uns für die eigentlich wichtigen Dinge und die Familie. Bei all dem scheint es, als seien wir selbst an der Misere schuld.
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Der flexible Kapitalismus hat ein Regime der diskontinuierlichen Zeit geschaffen, das den Kampf um jedes Zeitatom in uns hineinverlagert. Ständig müssen wir selbst entscheiden, wie wir uns mit Fremdbestimmung und scheinbaren Sachzwängen arrangieren.
Herrschaft wurzelt vor allem in einer Detailorganisation von Raum- und Zeitteilen, „die den einzelnen Menschen in seiner Lebenswelt wie in einem Korsett einspannen“ (Oskar Negt).
„Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf“, wusste schon ein in Jena promovierter und inzwischen wieder häufig zitierter Philosoph. Karl Marx empfahl auch das geeignete Gegenmittel, um den Zeitdiebstahl schon innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise zu begrenzen.
Mehr Zeit für die Familie und für sich selbst, das bedeutet im Kapitalismus Kampf um kürzere Arbeitszeiten und dies ist immer auch ein politischer Kampf, der Verfügungsrechte über Zeit und damit auch über Lebenszeit thematisiert. Im Interesse nicht zuletzt der Familien gehört dieser Kampf wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Wir alle sehen uns gegenwärtig mit einer absurden Polarisierung der Arbeitszeiten konfrontiert. Während Hochqualifizierte und Spezialisten häufig 50, 60 Wochenstunden und mehr Erwerbsarbeit leisten, sind viele Minijobber, Teilzeitkräfte und prekär Beschäftigte mit durchschnittlich zwölf Wochenstunden gegen ihren Willen unterbeschäftigt. Das ließe sich ändern – mit einer kurzen Vollzeit für alle, die genug frei verfügbare Zeit für die Familie lässt.
Bis zur Verwirklichung eines solchen Ziels, ist es noch ein weiter Weg, doch die Auseinandersetzung hat begonnen. Wenn auch noch zaghaft, hat IG Metall die – individuelle – Verkürzung der Arbeitszeit wieder zum Thema von Tarifverhandlungen gemacht. Andere Gewerkschaften werden vermutlich folgen. Wer seine Familie liebt und wer mehr frei verfügbare Zeit für Partner/in und Kinder möchte, hat allen Grund, solche Initiativen zu unterstützen.
Prof. Dr. Klaus Dörre
Dieser Standpunkt ist zuerst erschienen in kompass 1-18, Magazin der NaturFreunde Thüringen.